Der Journalist Günther Schwarberg
Günther Schwarberg wurde 1926 geboren. Er wuchs in Bremen-Vegesack auf.
Von seinem Vater, einem Lehrer, übernahm er schon früh die Kritik an der Naziherrschaft. Er empfand seine Kindheit und Jugend als “unfroh“. Sein Leben war bestimmt von den schrecklichen Erlebnissen im Nationalsozialismus und im Krieg. So konnte Günther Schwarberg, der noch als Soldat in den Krieg musste, als 18jähriger den 8. Mai 1945 als den glücklichsten Tag seines Lebens feiern.
Ab Herbst 1945 war er als Journalist tätig, zunächst in Bremen beim „Weser-Kurier“ und den „Bremer Nachrichten“, später u.a. bei einem Pressedienst, bei „Bild am Sonntag“ , bei „Constanze“ und schließlich – weit über 20 Jahre – beim Magazin „Stern“.
Bis zu seinem Tod am 3.Dezember 2008 war er als Autor und freier Journalist tätig. Seine wichtigste Arbeit war die Geschichte der „Kinder vom Bullenhuser Damm“, die zunächst als Artikelserie im Stern erschien und später als Buch veröffentlicht wurde. Er fand gemeinsam mit seiner Frau Barbara Hüsing, einer Rechtsanwältin, Angehörige der ermordeten Kinder. Mit ihnen gründeten die beiden 1979 die Vereinigung „Kinder vom Bullenhuser Damm“. So konnte auch erreicht werden, dass die Mordstätte, die Schule am Bullenhuser Damm, zur Gedenkstätte erklärt wurde und ein Rosengarten zum Gedenken an die ermordeten Opfer angelegt wurde.
Günther Schwarberg war jahrelang Vorsitzender der Vereinigung „Kinder vom Bullenhuser Damm“. Er und Barbara Hüsing haben zahlreiche Vorträge über das Schicksal der Kinder gehalten. Sie konzipierten eine große Wanderausstellung zu diesem Thema und veranstalteten 1986 ein internationales Tribunal unter dem Vorsitz des ehemaligen Verfassungsrichters Martin Hirsch. Das Tribunal beschäftigte sich mit der Nicht-Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen duch die bundesdeutsche Justiz am Beispiel des Kindermordes.
Für ihre Arbeit wurden Günther Schwarberg und Barbara Hüsing 1987 mit der Anne-Frank-Medaille ausgezeichnet. Das letzte Buch von Günther Schwarberg „Das vergess ich nie“ erschien 2007 und enthält seine Lebenserinnerungen als Journalist.
BÜCHER VON GÜNTHER SCHWARBERG
- Der Juwelier von Majdanek
Gruner und Jahr, Hamburg 1981 - Angriffsziel Cap Arcona
Gruner und Jahr, Hamburg 1983 - Der letzte Tag von Oradour (mit Lea Rosh)
Steidl Verlag, Göttingen 1988 - Die letzte Fahrt der Exodus
Göttingen 1988 - Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm
Göttingen 1988 - Das Getto (Bildband Warschauer Ghetto)
Göttingen 1989 - Die Mörderwaschmaschine
Steidl Verlag, Göttingen 1990 - Der letzte Tag von Oradour
Göttingen 1992 - Meine zwanzig Kinder
Göttingen 1996 - Es war einmal ein Zauberberg. Eine Reportage aus der Welt des deutschen Zauberers Thomas Mann
Rasch und Röhring, Hamburg 1996 - Sommertage bei Bertolt Brecht. Tagebuchskizzen unter dem dänischen Strohdach
Rasch und Röhring, Hamburg 1997 - Bremer Geschichten
Donat Verlag, Bremen 1999 - Im Ghetto von Warschau. Heinrich Jösts Fotografien
Steidl Verlag, Göttingen 2001 - Dein ist mein ganzes Herz. Die Geschichte von Fritz Löhner-Beda, der die schönsten Lieder der Welt schrieb, und warum Hitler ihn ermorden ließ
Steidl Verlag, Göttingen 2002 - Das vergess ich nie. Erinnerungen aus einem Reporterleben
Steidl Verlag, Göttingen 2007
„Renn, Shifra, renn!“ von Günther Schwarberg
(Erschienen 2005 in: Ossietzky Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft)
Es ist jetzt 27 Jahre her, seit meine Frau Barbara Hüsing und ich zum ersten Mal in den Keller der Schule am Bullenhuser Damm in Hamburg gingen. Als wir wieder herauskamen, nahm eine kleine alte Frau Barbara in den Arm und sagte: »Weinen reicht nicht. Man muß kämpfen.« Die Lehre haben wir nicht vergessen, die Frau ist schon lange tot, Ille Wendt, eine Widerstandskämpferin.
In diesem Keller sind zwanzig jüdische Kinder erhängt worden. Sie waren aus Auschwitz gekommen, zwischen fünf und zwölf Jahre alt. Zehn Mädchen, zehn Jungen. Im KZ Neuengamme bei Hamburg hatte der SS-Arzt Kurt Heißmeyer Experimente an ihnen gemacht, die Haut aufgeschnitten und Tuberkulose-Bakterien hineingerieben. Später hatte er ihnen die Lymphdrüsen herausoperieren lassen, um zu untersuchen, ob sich Abwehrstoffe gegen die Tbc gebildet hatten. Das geschah in der allerletzten Zeit des Krieges. Um die lebenden Zeugen seiner Verbrechen zu beseitigen, ließ er sie am 20. April 1945 aufhängen und ihre Leichen verbrennen.
In dieser Schule wurden nach 1945 wieder Kinder unterrichtet, ihnen wurde nichts über die Mordtat im Keller berichtet. Der Kindermord schien vergessen. Nur eine kleine Gruppe ehemaliger Widerstandskämpfer traf sich jedes Jahr im Keller dieser Schule. Jedes Jahr wurden es weniger.
Ich fragte mich: Wozu bist Du Journalist, wenn Du diese Geschichte nicht aufschreibst, so genau wie möglich? Vielleicht gibt es irgendwo in der Welt noch Eltern oder Geschwister, die nicht wissen, was mit ihren Kindern geschehen ist und die immer noch nach ihnen suchen.
Seit dieser Zeit sind wir es, die suchen. Ich fand eine Liste mit ihren Namen, ihrem Alter und ihrem Heimatland, die ein dänischer Mitgefangener heimlich aufgeschrieben hatte. Ich fand Fotografien von den Experimenten, die ein SS-Mann gemacht hatte. Aber ich wusste nicht, welcher Name zu welchem Bild gehörte. Ich ließ Plakate mit den Bildern und den Namen drucken, in mehreren Sprachen, und schickte sie in die Heimatländer der Kinder und nach Israel. Dort, in Tel Aviv, öffnete die Vernehmungsbeamtin der Staatsanwaltschaft, Ella Kozlowski, das Paket: »Das ist ja meine Cousine.« Sie schrieb mir, kam nach Hamburg, erzählte ihre Geschichte, die von Berlin über Warschau, Auschwitz, Bremen nach Israel führte. Und die ihrer sechsjährigen Cousine Riwka Herszberg aus Zdunska Wola in Polen. Ihr Vater Mosche Jakob Herszberg hatte dort eine kleine Textilfabrik. Er wurde in Auschwitz ermordet. Ihre Mutter Mania überlebte das KZ Auschwitz, emigrierte in die USA und heiratete dort. Als Ella Kozlowski ihr schrieb, wo ihr Kind Riwka getötet worden war, hatte sie gerade einen schweren Schlaganfall erlitten. Sie erkannte auf dem Foto nicht einmal ihre Tochter wieder. Bald darauf starb sie. Aber Ella kam wieder und wieder nach Hamburg, solange sie noch sehen konnte, und sie wurde unsere Freundin. Einmal brachte sie eine Frau aus Bremen mit, Henny Brunken, die ihr immer Brot und Lebensmittel zugesteckt hatte, wenn die Gefangenen nach Bombenangriffen auf die Stadt den Schutt von den Straßen räumen mussten.
In Hamburg sah Felicja Zylberberg im Stern das Bild ihrer kleinen Nichte Ruchla Zylberberg aus Zawichost an der Weichsel, Tochter des Schuhmachers Nison Zylberberg. Als die deutschen Truppen Polen besetzten, flüchtete die schwangere Felicja mit ihrem Mann und mit Nison über die Grenze ins sowjetisch besetzte Gebiet. Sie wollten, sobald es ging, Ruchla mit ihrer Schwester Esther und der Mutter Fajga nachholen.
Aber am selben Tag, als 1941 die Erlaubnis kam, fielen die Deutschen in die Sowjetunion ein. Die Zylberbergs wurden weit in den Osten nach Usbekistan transportiert. Zu essen gab es fast nichts, Felicjas kleiner Sohn Maxim verhungerte auf der Fahrt.
Nach dem Krieg kehrten die Zylberbergs nach Polen zurück, Fajga und ihre beiden Kinder waren nach Auschwitz deportiert worden. In Polen gab es immer noch Antisemitismus, sie wurden auch hier vertrieben. Felicja und ihr Mann gingen nach Hamburg, Nison nach New York. Vierzig Jahre nach dem Kindermord erfuhr er dort, was mit Ruchla geschehen war. Er kam nach Hamburg, stand schweigend am Ort der Ermordung seines Kindes, schwieg, schwieg. Er ist vor drei Jahren gestorben.
Zufälle halfen uns. 1983 erzählten uns Hamburger Freunde von ihrer Nachbarin: Sie und ihr Sohn Georg waren zusammen mit dem italienischen Jungen Sergio De Simone, der auf unserer Liste steht, nach Auschwitz deportiert worden. Georg und Sergio spielten dort miteinander.
Schließlich fanden wir Sergios Mutter in Neapel. Am 19. April 1984 empfingen wir sie mit Blumen in Hamburg am Bahnhof. Aus dem Schlafwagen stieg eine gebrechliche alte Dame. Kennen Sie diese Frau?, fragte ich Sergios Mutter und zeigte auf Georgs Mutter. Sie sah ihr ins Gesicht, nein.
Die beiden alten Damen streiften die Ärmel ihrer Kleider hoch und zeigten sich ihre eintätowierten Auschwitz-Nummern. Georgs Mutter hatte 76 515, Sergios Mutter 76 516.
Am 20. April 1985 stand Gisella De Simone an der Todesstätte ihres Sohnes, begleitet von vielen deutschen und italienischen Freunden. Als sie wieder zurückfuhr nach Neapel, sagte sie zum Abschied: »Ich will nicht glauben, daß er tot ist. Ich möchte sehr alt werden, damit er eine Mutter hat, wenn er zurückkommt.« Wir waren sehr traurig, als sie 1988 in Neapel starb.
Aber jetzt kommen Sergios zwei Cousinen, Andra und Tatiana, die nach Auschwitz nie wieder mit Deutschen sprechen wollten, keine deutsche Zeitung lesen, keine deutsche Maschine benutzen. Letztes Jahr, als sie hier waren, hat Andra zu Barbara und mir gesagt, zwei Deutschen: »Wir lieben Euch.«
Immer mehr Angehörige finden wir, immer mehr unglaubliche Geschichten. Zum Beispiel die von Shifra Mor. In der israelischen Zeitung Ma'ariv las sie von den Kindern vom Bullenhuser Damm und entdeckte den Namen ihrer Schwester Bluma Mekler. 1998 kam sie nach Hamburg und erzählte: Ihre Eltern betrieben einen Landhandel gegenüber dem Rathaus der Provinzstadt Sandomierz im südlichen Polen. Ihre Familie war sehr fromm. So fromm, daß ihre Großmutter Esther Chaja geborene Adler es ablehnte, nach Argentinien auszuwandern: Es sei nicht sicher, daß es dort koscheres Essen gebe. So blieb die Familie Mekler. Nur ein Onkel von Shifra wanderte aus und überlebte in Argentinien den Holocaust.
Im Oktober 1942, als sie fünf Jahre alt war und ihre Schwester Bluma acht, gab es in Sandomierz eine Razzia. Ihre Mutter schrie: »Renn, Shifra, renn!« Sie rannte, nie sah sie ihre Familie wieder. Eine polnische Nachbarin versteckte sie im Stall in einem Erdloch. Zweieinhalb Jahre blieb das Kind in kalten Verstecken, entkam einer zweiten Razzia und wurde nach der Befreiung von einem jüdischen Sowjetoffizier wie seine eigene Tochter aufgenommen. Sie wog acht Kilo. Er wollte sie mitnehmen nach Moskau und adoptieren, das wurde ihm nicht erlaubt. So brachte er sie in ein jüdisches Waisenhaus nach Lublin. Von dort kam sie in den Kibbuz Mischmar Ha'emek in Israel. Eine deutsche Jüdin, Hanna Wolf, betreute sie wie eine Mutter. Sie bekam den hebräischen Namen Mor, Myrrhe.
In Hamburg konnte sie kaum in den Keller gehen: »Ich dachte, ich sei ein starker Mensch und das Leben habe mich gehärtet. Aber als ich in dem Keller stand, fühlte ich mich wie in Teile zerfallen. Der Eindruck war so stark, daß ich am ganzen Körper zitterte.«
Am nächsten Tag war sie eingeladen in einen Kindergarten des Roten Kreuzes, der nach ihrer Schwester benannt wurde. Es war für sie ein großes Erlebnis, die Kinder fragten sie nach ihrem Leben und ihren Geschwistern, sie sangen ihr hebräische Lieder, hatten Bilder für sie gemalt. »Ich sagte mir, daß Kinder, die solche Fragen stellen, die Generation sind, die solche menschengemachten Greuel wie den Holocaust für alle Zukunft verhindern.«
Es vergeht jetzt kaum ein Jahr, in dem sie nicht zu uns nach Hamburg kommt.
Eine Angehörige ist noch nie hier gewesen: Ans van Staveren aus Utrecht. Sie ist die Tante der Brüder Eduard und Alexander Hornemann aus Eindhoven, die mit ihren Eltern nach Auschwitz deportiert wurden und alle nicht wiederkamen. Ans hatte sich in einem Dorf versteckt, in einem Schweinestall, später in einem Kloster. Als sie von uns hörte, daß ihre beiden Neffen in Hamburg erhängt worden waren, und wir sie baten, zur Gedenkfeier nach Hamburg zu kommen, lehnte sie ab: »Ich fahre nicht in ein Land, in dem der Mörder meiner Neffen nicht für diesen Mord bestraft wird.«
Der SS-Obersturmführer Arnold Strippel, der am Bullenhuser Damm das Mordkommando gehabt hatte, wurde dafür nie vor Gericht gestellt. Die Hamburger Justiz fand dafür tausend Erklärungen. Zur Begründung, weshalb dieser Mord nicht als »grausam« gewertet werde, fiel der schreckliche Satz: »Den Kindern ist über die Wegnahme ihres Lebens hinaus kein weiteres Übel zugefügt worden.«
Wir verstanden ihren Entschluß. Immer wieder besuchten wir sie, zu ihren Geburtstagen, zu Festen. Sie wurde unsere »Tante Ans«. Am 25. Juli sind wir wieder zu ihr eingeladen, mit vielen anderen. Dann wird Tante Ans hundert.