Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e.V.
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Die 20 Kinder

Mania Altman
*1938 in Radom, Polen

Die Geschichte der Kinder vom Bullenhuser Damm

Im April 1945 sind die alliierten Armeen schon weit in das nationalsozialistische Deutschland vorgestoßen. Der Krieg ist längst entschieden. Aber erst am 8. Mai wird die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. Bis dahin beseitigen jene, die wissen, welche Verbrechen sie begangen haben, so viele Beweise wie möglich.

© Silke Goes

In dieser Zeit leben im Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg noch 20 jüdische Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren. Es sind zehn Mädchen und zehn Jungen, darunter zwei Geschwisterpaare. Monatelang hat der SS-Arzt Dr. Kurt Heißmeyer sie als Versuchsobjekte für medizinische Experimente missbraucht: Er hat den Kindern lebende Tuberkelbazillen unter die Haut gespritzt und mit einer Sonde in die Lunge eingefühlt. Dann hat er ihre Lymphknoten herausoperiert. In einem Verhör im Jahr 1964 wird Heißmeyer erklären, dass es für ihn "keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Juden und Versuchstieren" gegeben habe. Am 20. April 1945 bringt man die Kinder zusammen mit vier erwachsenen Gefangenen, die sich im Lager um sie gekümmert haben, in ein großes Schulgebäude in Hamburg. Sie kommen gegen Mitternacht an. Die Erwachsenen sind die beiden französischen Ärzte Gabriel Florence und Rene Quenouille sowie die Holländer Dirk Deutekom und Anton Hölzel. Es handelt sich um die Schule am Bullenhuser Damm, die als Außenstelle des Konzentrationslagers Neuengamme dient. Die Gruppe wird in den Keller gebracht. Im Heizungsraum erhängt man die Erwachsenen an einem Rohr unter der Decke. Den Kindern spritzt man Morphium. Schlafend erhängt man sie an einem Haken an der Wand. Der SS-Mann Johann Frahm hängt sich mit seinem ganzen Körpergewicht an die Kinder, die so dünn sind, dass sich die Schlinge nicht zuziehen kann. In einem Verhör 1946 sagt Frahm, er habe die Kinder "wie Bilder an die Wand gehängt". Keines von ihnen habe geweint.

HINTERGRUND

Internationale Erinnerung

Das Schicksal der 20 Kinder beschäftigt Menschen in verschiedenen Ländern:
1996 wurde in Verona in Italien ein Spielplatz mit Rosengarten nach Sergio De Simone und 1997 eine Schule in Neapel nach ihm benannt. 2007 wurde in Mailand ein zentraler Park dem Andenken an die 20 ermordeten Kinder gewidmet. Im niederländischen Eindhoven gibt es im Gebrüder-Hornemann-Park Gedenkfeiern, in Frankreich wurde in den letzten Jahren eine Wanderausstellung gezeigt. Im Museum Auschwitz und in vielen Gedenkstätten weltweit werden Biografien der Kinder präsentiert.

Die Betreuer der Kinder

Als Zeugen der medizinischen Experimente wurden die vier Betreuer der Kinder am 20. April 1945 ebenfalls ermordet.
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Dann werden die nächsten Gruppen erhängt, 24 sowjetische Kriegsgefangene. Wie sie hießen, weiß man bis heute nicht. Als wäre der Kindermord nicht geschehen, ging das Leben in Hamburg weiter. Aus der Schule wurde wieder eine Schule, deren Schüler über die Ereignisse im Keller des Gebäudes nicht aufgeklärt wurden. Nach den Eltern und Geschwistern der Opfer wurde nicht gesucht, und die Täter waren bald vergessen. Nur einige Mitgefangene aus dem KZ Neuengamme kamen jedes Jahr mit Blumen zum Bullenhuser Damm.

Die sowjetischen Häftlinge

In derselben Nacht wurden in der Schule am Bullenhuser Damm mindestens 24 sowjetische Häftlinge ermordet.
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Angeklagte belasteten in den Curio-Haus-Prozessen 1946 den ehemaligen Stützpunktleiter der Hamburger Außenlager des KZ Neuengamme Arnold Strippel der Beteiligung an den Morden am Bullenhuser Damm. Strippel wurde 1949 wegen im KZ Buchenwald begangener Morde zu mehrmaliger lebenslanger Haft verurteilt, jedoch 1969 entlassen und finanziell entschädigt. 1967 stellte die Staatanwaltschaft in Hamburg ein Ermittlungsverfahren gegen Strippel im Fall Bullenhuser Damm „mangels Beweises“ ein.

Einzelne Angehörige der Kinder hatten Gettos und Konzentrationslager überlebt. Doch trotz jahrzehntelanger mühevoller Suche blieben sie im Ungewissen, was mit den Kindern geschehen war. Viele der Überlebenden hatten aufgrund der Deportation zudem ihren Besitz und damit auch ihre persönlichen Erinnerungsstücke verloren. Als Erinnerung an die Kinder blieben nur die wenigen Fotos, die Verwandte, die emigriert oder untergetaucht waren, aufbewahren konnten.

HINTERGRUND

Curiohaus-Prozesse

Das Verbrechen wurde 1946 in den „Curiohaus-Prozessen“ rekonstruiert und fünf Täter zum Tode verurteilt. In den 1960er Jahren setzten sich ehemalige Häftlinge des KZ Neuengamme für ein öffentliches Gedenken und eine Gedenktafel im Schulgebäude ein. In diesem Zeitraum wurde auch der Arzt Kurt Heißmeyer in der DDR gefasst und dort zu lebenslanger Haft verurteilt.

Günther Schwarberg

33 Jahre nach dem grausamen Ereignis wurde der Journalist Günther Schwarberg auf die Geschichte aufmerksam. Im Magazin stern veröffentlichte er die Serie "Der SS-Arzt und die Kinder". Durch langjährige Recherchen in vielen Ländern hatte Schwarberg die Angehörigen der Kinder ausfindig gemacht. In seinem Buch "Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm", das in sechs Sprachen übersetzt wurde, hat Schwarberg die Geschichte der Kinder für die Nachwelt erhalten. Heute sind von 17 der 20 Kinder die Angehörigen gefunden worden.

Am 20. April 1979 kamen das erste Mal Angehörige der Kinder zur Gedenkfeier in die Schule am Bullenhuser Damm, und mit ihnen kamen über 2000 Hamburger. Die "Vereinigung der Kinder vom Bullenhuser Damm" wurde gegründet, die die Erinnerung an die Opfer wach hält und in engem Kontakt zu den Angehörigen steht. Ehrenpräsident ist der Bruder des ermordeten französischen Jungen Georges-André Kohn, Philippe Kohn aus Paris.

PUBLIKATION

”Der SS-Arzt und die Kinder“

Im Steidl-Verlag ist die überarbeitete Neuauflage von Günther Schwarberg’s „Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm“ erschienen und ab sofort im Buchhandel erhältlich.
Weitere Infos

Chaim Altman, der Onkel von Mania Altman, beim Tribunal am Bullenhuser Damm, 1986. Chaim Altman emigrierte in der Nachkriegszeit zusammen mit seiner Frau Hilde und Manias Mutter in die USA. Pola Altman starb 1971 in Chicago. Sie erfuhr bis zu ihrem Tode nicht, wie ihre Tochter ermordet wurde.
© Archiv Günther Schwarberg

Die Rechtsanwältin Barbara Hüsing erstattet im selben Jahr im Namen der Angehörigen Strafanzeige gegen Strippel wegen Mordes, woraufhin die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren wieder aufnahm. 1987 wurde das Verfahren eingestellt. Um das Versagen der deutschen Justiz im Fall Arnold Strippel zu zeigen, inzenierte die Vereinigung „Kinder vom Bullenhuser Damm“ 1986 ein „Internationales Tribunal“. Darin traten Angehörige und ehemalige Häftlinge des KZ Neuengamme ebenso wie Juristen auf.

Seit 1980 gibt es im Keller des Gebäudes eine Gedenkstätte. 2010/2011 konnten weitere Kellerräume für die Gedenkstätte umgebaut und damit für eine neue Ausstellung genutzt werden. Die Gedenkstätte in der Schule am Bullenhuser Damm ist heute nicht nur für Hamburg ein wichtiger Erinnerungs- und außerschulischer Lernort, sondern auch international bekannt.

Ein "Rosengarten der Kinder vom Bullenhuser Damm" wurde angelegt, in dem viele tausend Menschen Rosen zum Andenken an die Kinder pflanzten. 1991 wurden im Hamburger Neubaugebiet Schnelsen-Burgwedel Straßen, ein Kindergarten, ein Spielhaus und ein Park nach den zwanzig Kindern benannt. An der jährlichen stattfindenen Gedenkfeier am 20. April nehmen viele Hamburger Bürger teil.

HINTERGRUND

Internationales Tribunal 1986

1986 fand ein mehrtägiges Tribunal in der Gedenkstätte am Bullenhuser Damm statt. Das Tribunal war besetzt mit Juristen aus den verschiedenen „Opferländern“. Den Vorsitz hatte der ehemalige Verfassungsrichter Martin Hirsch.
Ziel des Tribunals war es aufzuklären, warum einer der Hauptverdächtigen für den Kindermord, Arnold Strippel, nicht vor Gericht gestellt wurde. Das Tribunal sollte und wollte kein «Ersatzgericht» sein. Untersucht wurden die juristischen Hintergründe der langjährigen Untätigkeit der bundesdeutschen Justiz bei Naziverbrechern. In der Verhandlung wurden Auszüge aus den Protokollen des „Curiohaus-Prozesses“ von 1946 verlesen und Zeugen, Angehörige sowie Sachverständige angehört. Nach Ansicht der Juristen war die zeitliche Verzögerung durch nichts zu entschuldigen, aber exemplarisch für die Behandlung von Naziverbrechern durch die bundesdeutsche Justiz.